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Fünf Tage Turkmenistan liegen vor uns und es sind genau fünf Tage, in denen wir 500 Kilometer fahren müssen, egal wie die Straße ist, egal wie der Wind weht und egal wie unsere Verfassung ist. Ausgeruht und guter Dinge starten wir in den ersten Tag. Turkmenistan empfängt uns mit Stille. Die Luft flimmert über der Weite, in ruhiger Monotonie rollen wir in die Sonnenlandschaft des frühen Nachmittags und nur selten begegnen uns Autos. Es geht vollkommen geradeaus und die Landschaft wirkt wie ein Standbild. Ein Telegrafenmast folgt dem nächsten, immer gleiche Büsche ziehen vorbei und auch die Beine vollziehen endlose, immer gleiche Wiederholungen. Nach ein, zwei Stunden verliert sich jedes Zeitgefühl und mein Geist beginnt zu schweifen, auf der Suche nach etwas Festem, einem Anhaltspunkt. Die Wahrnehmung wird feiner und ich beginne die kleinen Veränderungen wahrzunehmen, die es doch gibt. Mal ist die Vegetation weniger, mal etwas dichter, mal geht es unmerklich bergauf, mal ganz leicht bergab, der Wind ändert seine Richtung und Stärke, wirft sich uns mit einer Böe entgegen oder flaut kurzzeitig ab, mal sind in der Ferne ein paar Häuser zu sehen. Auch die Sonne wandert unaufhörlich, die Schatten werden länger, das Licht sanfter und röter.

In die endlose Weite Turkmenistans!


Abwechslung

Abendessen

Kurz nach Sonnenuntergang machen wir an einem kleinen Laden am Straßenrand halt, um ein paar Kleinigkeiten zum Abendessen einzukaufen und es geschieht etwas Sonderbares. Wir sind weiter von zu Hause entfernt als je zuvor auf der Reise und doch wirkt hier einiges wieder vertrauter. Die Frau im Laden ist freundlich, ruhig und viel zurückhaltender als die Menschen im Iran, wir können die kyrillische Schrift halbwegs lesen und uns auf Russisch verständigen. Der Laden selbst mit seiner kargen, funktionellen Ausstattung und dem überschaubaren Angebot hat etwas sowjetisches und nach der zwar reichen, bunten, aber auch fremden Welt des Iran wirkt es hier wie ein Stück Heimat. Wir essen im lauen Wind zu Abend und machen uns im Dunkeln wieder auf den Weg, um unserem Tagespensum zumindest ein Stück näher zu kommen. Nach zwei, drei Stunden Fahrt durch die Schwärze der Nacht geht der Mond auf, wir fahren ein Stück weg von der Straße und stellen das Zelt auf hartem Boden zwischen ein paar Büschen auf. Es ist perfekt still, der Mond taucht die einsame Landschaft in ein blasses, mildes Licht und wir lassen die traumartige Szenerie ein wenig auf uns wirken, ehe wir uns für die erste turkmenische Nacht in unsere Schlafsäcke legen. Tagesbilanz: 68 Kilometer, nicht schlecht für einen Start um 14:00 Uhr.

Wüstenmorgen

Der Morgen des zweiten Tages beginnt früh und gleich mit einem Ärgernis: ein platter Reifen. Konzentration, schnelles Handeln und weiter. Das Weiter dauert jedoch keine 300 Meter. Wieder ist der Reifen platt! Also nochmal: Schlauch raus, tauschen, einbauen, pumpen. Eine Dreiviertelstunde kostet uns dieser Spaß und das an Darias Geburtstag. Wäre halb so wild, wenn wir nicht jeden Tag hundert Kilometer machen müssten und am ersten weniger geschafft haben wegen der Warterei an der Grenze. Das Transitvisum zu überziehen wäre kein Spaß und nicht billig. Die Navigation jedoch ist denkbar einfach: 80 Kilometer geradeaus und dann rechts. Wir schaffen es dann aber trotzdem, zwei Kilometer an der Abzweigung vorbeizufahren, machen kehrt und biegen in die kleinere Straße in Richtung der Stadt Mary ein. Die nächste Schwierigkeit wartet auf uns in Form einer richtig schlechten Schotterstraße, zum Glück nicht allzu lang und wir kommen auf die große Straße, die den Ostteil Turkmenistans von Süden nach Norden durchzieht. Unterbrochen von einer Mittagspause geht es mit eiserner Konsequenz weiter, wieder bis spät in die Nacht. Einhundertvierundzwanzig Kilometer ist die Tagesbilanz. Wir haben das Defizit des ersten Tags fast ausgeglichen, sind stolz und hundemüde, als wir ein paar hundert Meter in eine Seitenstraße reinfahren und im Mondschein das Zelt aufbauen. Daria bekommt ein kleines Geburtstagsständchen, ein großes Bier muss zum Anstoßen reichen und wir fallen in traumlosen Schlaf.

Der dritte Tag beginnt wie der Tag zuvor. Eigentlich fit, muss ich mich dennoch richtig abmühen, Daria hinterherzukommen. „Etwas stimmt nicht!“ kommt mir in den Sinn und bleibe stehen. In der Morgensonne heißt es dann wieder einen Platten reparieren, diesmal ist mein Hinterrad dran. Bei der weiteren Fahrt zeigt sich mal wieder, dass die Vorstellungen, die ich mir von Turkmenistan gemacht habe, nicht lange der Realität standhalten. Ich hatte für die fünf Tage Transit endlose Wüste erwartet, aber entlang der großen Straße begleiten uns grüne Felder, Obstbäume und auch die ersten Baumwollplantagen. Auch die Straße ist bei weitem nicht so gut, wie es die Fotos von Aschgabat nahelegen, doch ein Klischee ist hier vollständig und großartig erfüllt: der Größenwahn des turkmenischen Präsidenten.

Prachtbauten


Weiße Gebäude

In der Stadt Mary dominiert die Farbe Weiß. Weiße Denkmäler zeugen von glorreicher Vergangenheit, weiße Prachtbauten zeigen dem Untertan die Herrlichkeit seines Präsidenten und auch bei den Autos gibt es kaum andere als weiße. Erst später erfahre ich, dass dies einer der letzten Erlasse von Gurbanguly Berdimuhamedow (ja, der Präsident heißt so!) ist: dunkle Autos sind verboten, weil sie ihm nicht gefallen. Die Pflanzen und der Rasen vor den Regierungsgebäuden sind auf das Penibelste gepflegt, eine Heerschar von Arbeitern ist permanent mit Hecke schneiden, Rasen mähen, Unkraut zupfen beschäftigt und alles wirkt zu groß, zu protzig und irgendwie zu steril. Die größte Absurdität steht irgendwann unvermittelt und zweckfrei in der Landschaft. Turkmenistan brüstet sich mit der größten Jurte der Welt. Ja, das Gebäude ist rund und es hat ein gewölbtes Dach, aber nein, mit einer Jurte, dem Nomadenzelt aus erdfarbener oder weißer Wolle, hat das gar nichts zu tun. Das Gebäude ist riesig, natürlich weiß und wieder pflegen viele Arbeiter die Grünflächen dieses Angeberbaus. Hineingehen und besichtigen ist nicht möglich, wahrscheinlich sollen wir nur von außen bestaunen, wie unglaublich große Gebäude der großartige turkmenische Präsident hat. Damit die Turkmenen auch keinesfalls vergessen, wem sie all die schönen weißen Dinge zu verdanken haben, lächelt ihnen der Präsident von unzähligen Bildern entgegen, mal seriös in Anzug und Krawatte, mal kühn als Reiterheld, mal als frommer Muslim, mal schneidig in Uniform.

Groß ja, aber Jurte?


Denkmal für vergangene Heldentaten

Moscheen dienen auch der Herrschaft

Und doch gibt es auch hier andere Bilder zu sehen, quasi zwischen den Zeilen des präsidialen Epos. Wir machen an einem Straßenstand halt und essen von fröhlichen Frauen lecker zubereitete Teigtaschen, bestaunen eine Hochzeitsgesellschaft vor einem Denkmal und im Abendlicht quert eine Herde Kamele die Straße. Die alte verfallene Festung von Abdullah Khan ist herrlich unperfekt und gibt uns gerade deshalb das starke Gefühl, an einem historischen Ort der Seidenstraße zu sein. Die Fahrt führt uns auf immer schlechterer, beschwerlicher Straße wieder bis tief in die Nacht. Nach genau einhundert Kilometern machen wir in einem kleinen Gasthof halt, essen herrliche Suppe und unterhalten uns nett mit Li Jie, der mit dem Fahrrad von China nach Europa fährt. Schön, sich hier in der Mitte zu treffen!

Alte Festung der Seidenstraße


Kamele!

Leckere Teigtaschen


Doch kurz Zeit für Begegnung

Treffen in der Mitte


Aufbruch am Morgen

Ausgeruht und guten Mutes starten wir in den vierten Tag. Wir lassen hier die Zivilisation hinter uns und haben noch gute 200 Kilometer Wüste vor uns. Die Straße ist rissig, rauh und voller Schlaglöcher, die Landschaft von hypnotischer Monotonie und wir kämpfen gegen den immer stärker werdenden Gegenwind. Dünen säumen links und rechts unseren Weg und an manchen Stellen schützen Holz und Stroh die Straße vor wanderndem Sand. Wir kommen viel langsamer voran als gedacht, trotz konsequenter Anstrengung. Die Pausen sind streng rationiert, es gibt nur zwischendrin am Straßenrand etwas zu essen oder ein kühles Getränk.

Ab jetzt 200 Kilometer Wüste


Schutz vor wanderndem Sand

Geradeaus

Schier zur Verzweiflung bringt mich aber die Technik. Ganze vier Mal muss ich das Hinterrad ausbauen, um einen Platten zu reparieren und ich komme einfach nicht auf den Grund für die ständigen Pannen. So wird es Nachmittag, Abend und langsam Nacht. Der Wind ist zum Sturm angeschwollen, die müden Glieder schreien nach Pause und doch fahren wir weiter, Pedalumdrehung für Pedalumdrehung, Stunde um Stunde. Das Sternenzelt spannt sich über die nächtliche Einsamkeit, wir halten für wenige Minuten, um hastig ein karges Mahl aus etwas Brot und iranischen Fertiggerichten zu verspeisen, machen für ein paar Augenblicke die Augen zu und zwingen uns wieder zum Aufbruch. Der Wind wirft uns seine nachtschwarzen Böen entgegen, die Straße bremst zäh jede Umdrehung der Räder und die Welt schrumpft auf die wenigen Meter des Scheinwerferkegels zusammen. Treten – atmen – treten – atmen – treten – atmen. Irgendwann kann ich nicht mehr und auch die Pausen mit ein paar Minuten dösen im Wind helfen nicht mehr. Mir zittern die Glieder, meine letzten Reserven sind aufgebraucht und es ist zwei Uhr morgens. Wir haben gerade mal 78 Kilometer geschafft, aber mir ist alles egal. Ich will nur noch schlafen. Wir fahren in den Sand am Rande der Straße, drehen uns mit dem Rücken zum Sturm, decken uns mit den Schlafsäcken zu und ein steinschwerer Schlaf übermannt mich innerhalb von Sekunden.

Mal wieder reparieren


Unser Warndreieck

Nein, nicht meine Lieblingsbeschäftigung!

Drei Stunden später klingelt der Wecker. Wir sind noch da, die Wüste ist noch da und auch der Sturm ist noch da. Wir packen zusammen und rollen zurück auf die Straße. Es ist dunkel, doch ein lichter Streifen am Horizont kündet vorsichtig vom kommenden Tag. Der Himmel färbt sich langsam von dunklem Blau über Wassertöne hin zu zartem Rosa, die Büsche zeichnen sich scharf und dunkel vor dem ersten Licht des Tages ab und irgendwann kommt machtvoll und tiefrot die Sonne über den Horizont.

Das erste Licht des Tages


Morgensonne

Wir halten kurz an, essen eine Kleinigkeit und mit dem Tag erwacht etwas in uns. Ein Notstromaggregat springt an, eine Reservekammer öffnet sich, eine bislang unentdeckte Quelle beginnt zu sprudeln. Die Müdigkeit ist noch da, die Knochen schmerzen immer noch und doch spüren wir beide eine neuen Willen, die verbleibenden 130 Kilometer anzupacken. Jetzt. Bis zur Grenze. Egal was kommt. Die Bedingungen der Straße sind unverändert, der Wind stürmt uns nach wie vor entgegen, doch wir trotzen den Widrigkeiten Augenblick für Augenblick.

Gegen den Sturm


Tanzender Sand

Im Sandsturm

Die Fahrt geht viele Stunden durch unwirtliche Wüste, der Sand tanzt über die Straße, die Pflanzen beugen sich im Sturm, doch mein Blick ist stoisch auf den Tacho gerichtet und wir halten kompromisslos und willensstark die Geschwindigkeit, die wir brauchen, um die Grenze vor Mitternacht zu erreichen. Die Pausen sind getaktet, die Kommunikation auf das Notwendigste beschränkt und wir kommen nicht schnell, aber doch Kilometer um Kilometer voran. Am frühen Abend erreichen wir Türkmenabat, die Stadt im Norden, die uns noch gestern als unerreichbar erschien. Einhundertzehn Kilometer. Eine Frau fragt nach einem Foto, wir sagen ja, bleiben aber nicht stehen, sondern fahren nur ein bisschen langsamer, zu sehr haben wir das konsequente Fortkommen verinnerlicht. Sie lädt uns zu sich nach Hause ein und mit Wehmut müssen wir die Gastfreundschaft ausschlagen und es tut uns leid, nicht einmal für ein paar Minuten stehen geblieben zu sein. Im Abendlicht kaufen wir von den letzten Manat ein paar Snacks in einem kleinen Laden und fahren auf strahlend hell beleuchteter Brücke über den Fluss.

Noch kurz ein paar Snacks


Über die Brücke

Im Dunkeln geht es nun ermüdend lange zwanzig Kilometer in Richtung der Grenze. Das Ende scheint zum Greifen nah. Die Müdigkeit kommt jetzt langsam, doch mit Macht. Wir gönnen uns noch eine letzte kurze Pause und dann irgendwann sehen wir im Dunkel der Nacht Lichter. Helle Lichter. Die Grenze! Die Straßensperre mit den ersten Soldaten bereits im Blick halten wir an, um die Pässe herauszuholen. Jetzt darf nicht mehr viel dazwischenkommen, denn es ist bereits elf Uhr abends. Uns bleibt eine Stunde. Die Grenzer machen uns darauf aufmerksam, dass es schon recht spät sei („Was Du nicht sagst!“ denke ich mir) und wir uns beeilen sollten und geben bei der Grenzstation Bescheid, dass wir kommen. Zwei Kilometer noch trennen uns vom Ziel, ein Kilometer, fünfhundert Meter, zweihundert Meter. Ich trete in die Pedale, will endlich ankommen, doch mit einem lauten Krachen tritt mein Fuß ins Leere. Die Kette ist gerissen. Welch ein Glück, dass das erst jetzt passiert ist! 5 Kilometer früher und die ganze Mühsal wäre umsonst gewesen. Daria fährt im Schritttempo, ich schiebe die letzten zweihundert Meter zur Passkontrolle. Ohne große Probleme, aber wirklich auf den letzten Drücker um 23:49 Uhr kommen wir durch und in den etwa zwei Kilometer langen, militärisch gesicherten Streifen Niemandsland. Geschafft!

Wie Soldaten nach dem Gefecht schleppen wir uns durch das helle Licht der Flutscheinwerfer, ich mit gerissener Kette, Daria mit Riss in der Jacke, vorbei an endlosen Lastwagenkolonnen. Ein Mann spricht uns an und erkennt sofort unseren Zustand. Er läuft zu seinem Laster und kommt mit zwei Bechern heißer Schokolade zurück. Auf die Frage, woher er denn komme, antwortet er: „Iran.“ Wieder einmal Iran! Es treibt uns die Tränen in die Augen: all die Erinnerung an die iranische Gastfreundschaft, die Strapazen der letzten Tage und die Warmherzigkeit dieses Lastwagenfahrers kommen hier an einem Punkt zusammen.

Iranische Hilfsbereitschaft!

Wir kommen zur usbekischen Grenzkontrolle und auch dort gibt es keine Probleme, sondern einen netten Grenzbeamten. Er kommt zwar seiner Pflicht nach, hilft Daria aber beim Tragen des Gepäcks und lässt nur einen kleinen Teil unserer Taschen durch den Scanner fahren. Er wirft noch einen kurzen Blick auf unsere Medikamente und entlässt uns dann nach kurzer Zeit mit einem „Welcome to Usbekistan!“ in die Nacht. Es folgt noch die dritte Kontrolle, bei der der neugierige Grenzer vor lauter Ratschen fast vergisst, unseren Pass anzuschauen („Sorry, Mister, your passport, please!“) und dann sind wir durch. Wir stellen ein paar Meter weiter auf einem staubigen Parkplatz das Zelt auf und können endlich, endlich schlafen.

Irgendwie ist es seltsam, durch Turkmenistan so hindurchgerauscht zu sein. Es gab durchaus sehr nette Menschen, den einen oder anderen Austausch und auch hinter vorgehaltener Hand kritischen Kommentar zur politischen Lage. Doch einen tieferen Einblick haben wir nicht bekommen. Rückblickend brodelt immer mal wieder der Ärger über diesen bescheuerten Diktator hoch: Welch eine Unverschämtheit, für so etwas 70 Dollar für ein Transitvisum zu verlangen! Doch für uns waren es lediglich fünf Tage in einer der totalitärsten Diktaturen der Welt. Für die Turkmenen ist es ein ganzes Leben, in dem man nach 23:00 Uhr nicht mehr auf die Straße gehen darf, nicht ins Ausland reisen darf („Wir haben alles in Turkmenistan, warum willst Du verreisen?“), jeder Schritt kontrolliert wird, es keinerlei freie Presse gibt und in dem alles, aber auch alles von der Willkür des Alleinherrschers abhängt. Wir sind jedenfalls froh, jetzt in Usbekistan angekommen zu sein und am nächsten Morgen kommen auch wieder die Neugier und die Freude zum Vorschein: wir haben es wirklich geschafft und sind im Herzen der Seidenstraße angelangt!