Eines Mittags halten wir vor einem kleinen Laden an, um uns wie oft mit kalten Getränken einzudecken. Ein freundlicher junger Mann bringt und Eis vorbei und fragt, ob wir bei ihm zu Hause zu Mittag essen möchten. Es passt zeitlich gut und er wohnt direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Wir parken die Trikes vor dem Haus, ziehen die Schuhe vor der Haustür aus und gehen ein Stockwerk nach oben. Als wir über die Türschwelle treten, trauen wir unseren Augen kaum. Sicher dreißig Menschen sind im Raum, jung und alt, Männer und Frauen, auf dem Sofa und am Boden sitzend um eine große Tafel mit allerlei Leckereien. Es ist eine Großfamilie, die angereist ist für die Hochzeit am Abend. Ich kann kaum glauben, dass sie in dieser Situation einfach mal so zwei Fremde ins Haus einladen, aber genau so ist es. Die Runde ist fröhlich, das Essen lecker und ich packe kurz darauf die Ukulele aus und gebe ein paar Lieder zum Besten, sie legen Musik auf und wir werden angehalten zu tanzen. Es ist eine richtig lustige Mittagspause.
In froher Hochzeitsgesellschaft
Später tritt einer der Männer an mich heran, ob ich kurz behilflich sein könne. Ich verstehe nicht ganz bei was, folge ihm aber über die Straße in ein anderes Haus. Dort haben sich der Bräutigam und seine Brüder, Onkel, Cousins, Großcousins zweiten Grades und was weiß ich wer versammelt. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich verstehe, welche Hilfe sie von mir brauchen. Ich soll dem Bräutigam helfen, seine Krawatte zu binden! Anscheinend hat keiner eine richtige Ahnung und da ist es echt praktisch, dass ein Westler im Haus ist. Ich bin gerne behilflich und nach einem abschließenden Glas frischem Melonensaft brechen wir wieder auf, etwas traurig, dass wir nicht zur Hochzeit bleiben können; das Visum für Turkmenistan ist aber leider „date specific“ und so geht´s halt nicht ohne ein definiertes Pensum an Kilometern pro Tag.
Am Abend verlassen wir die vierspurige Hauptstraße, um einer kleineren Straße an der Küste zu folgen. Es dämmert bereits als wir bemerken, dass uns in einigem Abstand ein Auto mit Warnblinker folgt. Wir stoppen und ein Mann steigt aus, der uns dringend vor den abendlichen Gefahren dieser Straße warnt. Die Leute seien einfach verrückt beim Autofahren. Anscheinend ist er zu unserem Schutz langsam hinter uns her gefahren. Im ersten Augenblick bin ich angesichts der zahlreichen Warnungen skeptisch ob der großen Gefahr, aber er bietet uns an, zwei Pickuptransporter zu holen und uns mitsamt der Trikes zu sich nach Hause zu bringen. Wir lassen uns darauf ein, nachdem er uns versichert „very slow“ zu fahren. Und es dauert keine Viertelstunde bis er mit einem Freund zusammen angefahren kommt, wir mit vereinter Kraft je ein Trike auf einen Transporter verladen und dann doch nicht so slow über die Landstraße fahren. Wir sitzen jeder bei seinem Trike und der nächtliche Fahrtwind durchfaucht uns die Haare, rüttelt am Dach und den Fahnen, aber die wilde Fahrt durch die weiten Felder macht Freude.
Wir erreichen nahe der Küste einen kleinen Ort und werden wieder in den Kreis einer großen Familie aufgenommen. Wir sitzen auf der Veranda des Hauses mit allen beinander, die Männer bereiten einen Berg Schaschlikspieße vor, es gibt wie immer gleich mal Obst und Tee und mit ein wenig Englisch klappt auch die Verständigung recht gut. Nach dem Essen fahren wir noch ein Stückchen weiter zum Haus unseres Gastgebers. Die Familie mit zwei Kindern lebt in einem nett eingerichteten Haus und macht einen wohlhabenden Eindruck. Richtig angenehm ist, dass es nach ein wenig Ratschen, Taekwondo-Künste der Tochter bewundern zeitig ins Bett geht. Wir bekommen das Schlafzimmer mit großem Bett für uns allein und sind am Morgen herrlich ausgeruht als es wieder weiter geht. Die Gastfreundschaft ist vollkommen, selbstlos und nur unserem Wohl verpflichtet.
Wir gehören fast schon zur Familie
Früh übt sich, wer ein Ukulelemeister werden will!
Der weitere Weg führt durch Limettenplantagen und Schilfgürtel bis in die Kleinstadt Joibar, die als das Zentrum des iranischen Ringkampfes gilt. Sie hat einige berühmte Sportler hervorgebracht und selbst auf dem Kreisverkehr mitten im Zentrum steht eine Statue von zwei Ringkämpfern. Wir treffen eine Frau wieder, mit der wir einige Kilometer vorher ein paar nette Sätze gewechselt haben. Gleichzeitig kommt ein Mann mit einer großen Fernsehkamera hinzu und ehe wir uns versehen steht ein Stativ vor uns, ein Mikrofon wird auf uns gerichtet und wir befinden uns in einem Fernsehinterview, das in drei Sprachen stattfindet. Der Fernsehmann spricht Farsi, die Frau übersetzt ins Englische, Daria spricht auf Deutsch, ich übersetze ins Englische und die Frau wieder nach Farsi. Flüsterpost ist nichts dagegen! Sie wollen wissen, woher wir kommen, wie wir gefahren sind, wie uns der Iran gefällt, wie lange wir unterwegs sind und was unsere Pläne sind. Natürlich bildet sich in kürzester Zeit eine Menschentraube um uns und wir fühlen uns ein wenig wie Promis, die von Fans belagert werden. Irgendwann kommen wir dann wieder los, es gibt noch ein paar Nahaufnahmen der Vorderräder, eine Einstellung von vorne, und eine als wir wieder losfahren.
Wie ein Magnet die Eisenspäne ziehen wir hier Blicke und meist freudiges Erstaunen auf uns. Viele Menschen kramen aus den hintersten Winkeln der Erinnerung ein paar Brocken Englisch hervor und rufen uns zu, was ihnen in den Sinn kommt. Beliebt sind „Hey Mister!“, „Hello, hello!“, „How are you?“, „Yes, OK!“, „Very much!“, „Welcome!“ oder auch „I love you!“ Diese Aussagen sind synonym verwendbar, sollen sagen: „Hey, der totale Wahnsinn, dass ihr hier seid. Ich kann gar nicht richtig ausdrücken, wie sehr ich mich freue!“ und können in beliebiger Weise kombiniert werden: „How are you, very good!“, „Hello, OK, good Mister!“ bis hin zu „Good morning, very much!“. Die Rufe tönen quer über die Straße, von Motorrädern herab und aus Autofenstern heraus, aus Hauseingängen und von weit entfernten Feldern herüber. Beinahe immer habe ich den Eindruck, dass uns offene und ehrliche Freude entgegenkommt, die Menschen uns zeigen wollen, dass der Iran ein freundliches und liebenswertes Land ist, wie auch immer gerade die großpolitischer Konfliktlage aussieht. Wir versuchen, den Leuten zu winken, einen Gruß zurückzugeben, was natürlich nicht immer klappt.
Es beginnt zu regnen. Wir sind der großen Straße, auf die wir zurückgekehrt sind, schon recht überdrüssig geworden und so freuen wir uns über eine Einladung zum Tee. Wir sitzen wieder bei einer Familie, spielen mit den Kindern und warten darauf, dass es besser wird. Wird es aber nicht, im Gegenteil. Aus grauen, tief hängenden Wolken fällt ein feiner Sprühregen, der alles durchnässt. Wir warten auf der überdachten Veranda und beginnen zu hoffen, dass wir bleiben können. Diese Hoffnung erfüllt sich und wir bekommen ein winziges Zimmer auf der Veranda für uns. Vorher gibt es natürlich noch Abendessen und Austausch zu verschiedenen Themen. Der Vater hat früher als Ingenieur in Polen gearbeitet und zeigt mit rührendem Stolz alte ausgeblichene Fotos seiner polnischen Freunde. Wie so oft bekommen wir die Klage über die politische und wirtschaftliche Misere des Landes zu hören, insbesondere von den zwei etwa 18 bis 20 Jahre alten Söhnen. Es geht mit etwas Englisch und Übersetzer nur mühsam voran, doch nachdem ich den Satz „Wollt Ihr auch ein demokratisches System wie in Europa haben?“ tippe, kommt ein sehr klares, deutliches „Of course!!!“
Wenn´s schon regnet, gibt´s wenigstens Musik
Morgens wollen wir eigentlich früh weg doch als ich den Luftdruck prüfe, bemerke ich wieder eine gebrochene Speiche. Also wieder mal 1. Gepäck runter, 2. Werkzeug raus, 3. Bremse aushängen, 4. Hinterrad ausbauen, 5. Luft ablassen, 6. Reifen runter, 7. Felgenband lösen, 8. alte Speichenreste entfernen, 9. neue Speiche reinziehen, 10. vorsichtig den Speichennippel draufsetzen und festschrauben, 11. die Speichenspannung und 12. das Laufrad prüfen, 13. Reifen wieder aufziehen, 14. aufpumpen, 15. Hinterrad einbauen, 16. Bremse wieder einhängen, 17. Gepäck wieder drauf. Kostet zwei Stunden, Nerven und ich sorge mich, weil ich nicht weiß, woran es wirklich liegt und wie viele solcher Probleme noch auf mich zukommen werden. Aber wir fahren weiter und die Sorge verdünnt sich langsam wieder.
Oft sind es kleine Begegnungen, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Am Straßenrand in recht dünn besiedeltem Gebiet treffen wir einen hageren Mann von vielleicht 55 Jahren, der uns Tee und ein paar Früchte anbietet. Er sieht einfach und unscheinbar aus, hat aber einen sehr wachen Blick, eine schnelle Auffassungsgabe und strahlt irgendwie innere Stärke aus. Wir bleiben instinktiv ein wenig sitzen und unterhalten uns. Er wäre Ingenieur, wenn er denn gedurft hätte. Doch er ging nicht konform mit dem Regime und das hat ihn einen ganzen Lebensentwurf gekostet. Dennoch wirkt er ungebrochen und in seinem einfachen Leben stolz. Wie einfach und geringfügig sind unsere Probleme im Vergleich? Natürlich sind sie es im Einzelfall nicht immer und ich weiß selbst gut, dass Dinge gründlich schief gehen können und habe selbst dunkle Zeiten durch. Aber unsere Probleme finden in einem Rahmen statt, zu dem ich mir auf den nächsten Kilometern ein paar Gedanken mache.
Was haben wir zur Verfügung, was Menschen beispielsweise im Iran nicht zur Verfügung haben? Hier mal eine Liste, die mit Sicherheit nicht vollständig ist:
- Reisefreiheit: Wir können mit unserem Pass in 162 Länder ohne Visum einreisen und haben in ganz Europa nicht einmal mehr Kontrollen. Der deutsche Pass liegt damit weltweit auf Platz 2 in der Liste der stärksten Reisepässe. Mit iranischem Pass kann man in 13 Länder visafrei einreisen und ist damit auf Platz 186.
- Grundrechte: Jeder Mann und jede Frau in Deutschland hat Grundrechte, die der Staat beachten muss. Im Iran wird permanent gegen diese Rechte seitens des Staates verstoßen, am deutlichsten zeigt sich dies an der Situation der Frauen: ihnen werden unsinnige Kleidervorschriften aufgezwungen, ihre Aussage vor Gericht gilt nur die Hälfte der eines Mannes, sie dürfen bestimmte Berufe nicht ausüben, im Vergeltungsrecht haben Leben und Gesundheit von Frauen nur den halben Wert, Männer dürfen ihre Frauen schlagen. Eine iranische Frauenrechtlerin, die ein Video im Ausland veröffentlichte, auf dem sie ohne Kopftuch zu sehen war, wurde zu 5 Jahren Haft verurteilt.
- Wirtschaftliche Situation:
Wir haben eine international starke Währung mit der wir ausländische Produkte kaufen können, die uns günstige Reisen ermöglicht und für die meisten von uns ein Leben mit vielen Annehmlichkeiten. Ein Lehrer im Iran verdient 400 Euro im Monat und die Inflation ist abhängig von den neuesten Sanktionen durch die USA. Unsere Regierung gibt nicht das meiste Geld für die Familien regierungstreuer Elitesoldaten und für ausländische Terrororganisationen aus. - Bildung:
Wenn wir ein gutes Studium abschließen, können wir – je nach Fachrichtung – mit guten Chancen rechnen, in diesem Bereich eine Arbeit zu finden. Ich habe im Iran mit Ingenieuren, Mathematikern, Naturwissenschaftlern gesprochen, die im Lebensmittelladen arbeiten, Taxi fahren, dem Vater in der Schreinerei helfen. Keiner hatte einen echten Job in unserem Sinne. - Politische Rechte und Freiheitsrechte:
wir können frei wählen, welche Zeitung wir lesen, welche sozialen Medien wir nutzen, welche Partei wir unterstützen. Unsere Regierungen können abgewählt werden, wenn es uns nicht passt, wir können demonstrieren, Bier trinken, Witze über Politiker machen, Christen, Satanisten, Buddhisten oder Atheisten sein, wir bekommen keine Peitschenhiebe für Alkoholkonsum und für Diebstahl keine Hände amputiert, bei uns gibt es keine Todesstrafe und wir können beliebig hetero- oder homosexuell sein.
Im krassen Gegensatz zu dieser Situation steht im Iran die beispiellose Offenheit und Warmherzigkeit Fremden gegenüber und wir möchten uns bei all denen von Herzen bedanken, die wir hier nicht einzeln erwähnt haben: die vor uns mit dem Auto anhalten und Melonen, Weintrauben, Pfirsiche, Pflaumen und Äpfel schenken; die uns vom Straßenrand aus sehen und in Windeseile ein kaltes Getränk im Laden kaufen; die uns immer wieder explizit willkommen heißen, die uns zum Tee und zum Frühstück einladen; die uns beim Auffinden des Weges helfen; die extra mit dem Auto zum letzten Ort zurückfahren, um für uns Brot oder kaltes Wasser zu besorgen; die uns einen Schlafplatz anbieten, den wir nicht annehmen können, weil wir noch weiterfahren; die uns Cola, Nüsse, Kekse und Eis schenken; die uns im Laden bei fast jedem Einkauf etwas umsonst dazu geben; die beim Einkaufen kein Geld verlangen; die uns fröhlich begrüßen und sagen, wie sehr sie sich freuen, dass wir hier sind; die mit uns nachts durch die Gegend fahren, um uns einen guten Schlafplatz zu zeigen; die uns mit dem Auto durch die Stadt begleiten, damit wir uns nicht verfahren; die uns umsonst die Reifen aufpumpen. Es vergeht kein Tag ohne eine solche Begegnung, ohne jemanden, der mehr für uns tut, als er müsste, ohne jemanden, der uns das Gefühl gibt, hier willkommen zu sein.
Kurz bevor wir das südöstliche Ende des Kaspischen Meeres erreichen, verlassen wir die Hauptroute und fahren in das kleine Städtchen Bandar e Gaz, das wir am späten Abend erreichen. Auf der Suche nach einem Schlafplatz wollen uns wieder viele Menschen helfen, doch das ist nicht immer auch praxistauglich. Die vorgeschlagenen Plätze sind uns zu laut, zu überfüllt oder zu ungeeignet, um ein Zelt aufzustellen. Nach einer nervigen Polizeikontrolle und mehreren Warnungen vor Gefahr, die wir in den Wind schlagen, bauen wir unser Zelt schließlich auf einer etwas verlorenen Wiese auf und schlafen natürlich ohne Probleme und gut. Am nächsten Morgen fahren wir ans nahegelegene Ufer und blicken nochmal auf das graue Wasser und halten die Nasen in den frischen Wind, der beständig, monoton landeinwärts weht. Es heißt Abschied nehmen vom größten See der Welt. Er hat uns mit Unterbrechung fast drei Wochen begleitet.
Wir biegen ab nach Norden und die Veränderung ist diesmal plötzlich da. Die Straße ist still geworden, das Grün wird langsam weniger und weicht hellem Sand und trockenem Gras, vereinzelt stehen noch ein paar verlorene Häuser in der dürren Landschaft. Jäh und stark spüre ich, wie weit wir jetzt weg sind von der vertrauten heimatlichen Welt, vor uns die Wüsten Irans, Turkmenistans und Usbekistans, hinter uns das große Wasser, in jede Richtung ist es weit bis zu einer größeren Stadt und wir fahren auf unseren kleinen Gefährten durch die große Weite wie Papierboote auf offener See. Wir sind in Zentralasien angekommen.